ORFEO International – Pressetexte

Wichtige Veröffentlichungen kurz vorgestellt

Dezember 2005

ORFEO 1 CD/SACD C 700 051 B

Über den Dirigenten Carlos Kleiber ist viel geschrieben worden, doch nur wenige kennen genau die Stationen seines künstlerischen Wirkens. Es ist daher Zeit, einmal die Biographie Carlos Kleibers zu referieren und nicht die seinen Namen umrankenden Legenden. Denn die Stätten und Orte, an denen sich ein Menschenleben vollzieht, zumal das Leben eines Künstlers solchen Formats, sind nichts Äußerliches oder Zufälliges. Sie prägen eine Persönlichkeit im Kern.

Zum Beispiel: Wien. Viele Musikliebhaber glauben, Carlos Kleiber sei geborener Wiener gewesen. Das ist in einem tieferen Sinne auch richtig, denn das Repertoire von Carlos Kleiber ist wesentlich von Werken bestimmt, die in Wien entstanden oder dort spielen. Mit welcher Leidenschaft er immer wieder den „Rosenkavalier“ und „Die Fledermaus“ dirigiert hat, ist weithin bekannt; ebenso seine Vorliebe für einige Symphonien Beethovens, Schuberts und Brahms’.


Tatsächlich erblickte er das Licht der Welt am 3. Juli 1930 in Berlin. Sein Vater wirkte dort als Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden. Doch schon 1935 ging die Familie in das südamerikanische Exil. Erich Kleiber ließ sich in Buenos Aires nieder, betreute am Teatro Colón das deutsche Repertoire und unternahm viele Konzertreisen. Vater und Kinder erhielten die argentinische Ehrenstaatsbürgerschaft. In Buenos Aires wurde Carlos Kleiber zunächst privater Musikunterricht zuteil. Seine ersten praktischen Erfahrungen sammelte er bei der Probenarbeit des Vaters am Teatro Colón, der jedoch seinem Sohn die Berufslaufbahn eines Chemikers nahelegte. Obwohl er bereits 1952 in La Plata als Korrepetitor und Dirigent gewirkt hatte, immatrikulierte sich Carlos Kleiber demzufolge bei der Rückkehr nach Europa für ein Chemiestudium. Doch zeigte sich seine tatsächliche Begabung mit Übermacht. Das Studium in Zürich wurde abgebrochen, die Dirigentenkarriere nahm ihren blitzartigen Beginn. Das Münchener Gärtnerplatz-Theater engagierte ihn für einzelne Aufführungen, er ging für kurze Zeit als Kapellmeister nach Potsdam und 1957 für sieben Jahre an die Deutsche Oper am Rhein. In Düsseldorf erarbeitete Carlos Kleiber sich ein umfassendes Opernrepertoire. Auf seinen Programmen standen vier Werke, denen er lebenslänglich die Treue halten sollte - Otello, La Bohéme, La traviata, Der Rosenkavalier, aber auch Hänsel und Gretel, Der Waffenschmied und Daphne. 1959 dirigierte Carlos Kleiber erstmals in Salzburg.

1964 ging er wieder nach Zürich, wo sein Vater acht Jahre zuvor, am 27. Januar 1956 (dem 200. Geburtstag Mozarts!) gestorben war. Er eröffnete mit einer Neuinszenierung von Wiener Blut und beendete sein Engagement im Mai 1966 mit Don Carlos. Bemerkenswert bleibt das Züricher Intermezzo durch das einzige zeitgenössische Werk in Kleibers Katalog, die Erstaufführung von Hans Werner Henzes Undine1965.

Im Juni 1966 trat er mit einer Neuinszenierung des Wozzeck seinen Posten am Stuttgarter Staatstheater an. Hier war er relativ häufig zu erleben, 1968 beispielsweise an 15 Abenden. Doch dann verlagerte sich das Schwergewicht seiner Arbeit nach München, wo er regelmäßig Aufführungen der Bayerischen Staatsoper leitete, ohne sich fest an das Haus zu binden. Die Landeshauptstadt konnte sich Anfang und Mitte der 70er Jahre einer üppigen Präsenz des Meisters rühmen, der nun bereits vielerorts heftig umworben wurde. 1975 war er über 40 Mal am Nationaltheater zu erleben, davon allein 20 Mal mit der Fledermaus und 15 Mal mit La traviata. Insgesamt am häufigsten dirigierte er in seiner Münchener Zeit den Rosenkavalier. Sein bevorzugter Regisseur war Otto Schenk. Es zeichnete sich immer deutlicher jene Handvoll von Repertoirewerken ab, mit denen Carlos Kleiber in den kommenden Jahren seine Bühnenauftritte in Wien, Mailand, London und New York bestreiten sollte.

1974 verließ er Stuttgart, blieb aber der Bayerischen Staatsoper noch bis 1988 als freischaffender Dirigent verbunden. Ab 1974 sind auch vermehrt Symphoniekonzerte mit Carlos Kleiber zu verzeichnen. Hierbei dirigierte er vorwiegend das Orchester der Bayerischen Staatsoper, am Ende seiner Laufbahn auch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Daneben genossen die Wiener Philharmoniker bei ihm stets eine privilegierte Stellung. In die Mitte der 70er Jahre fiel auch sein endgültiger internationaler Durchbruch. Er dirigierte 1974 erstmals an der Covent Garden Opera London und in Bayreuth. Insbesondere „Tristan und Isolde“ mit Catarina Ligendza trug zu seinem Weltruhm bei. 1976 gab er sein Debüt an der Mailänder Scala mit dem zum Mythos gewordenen „Otello“; seine Partner waren hier Placido Domingo und Mirella Freni.

Im folgenden Jahrzehnt konzentrierte sich Kleiber auf München, Wien und Mailand. Mit allen drei Opernhäusern ging er auch auf Japan-Tournee. Außerdem war er mehrfach in London zu erleben. Ende der 80er Jahre gab es einen weiteren Einschnitt in seiner Künstlerbiographie; Carlos Kleiber war 1988 an der Metropolitan Opera zu hören – „La Bohème“ mit Luciano Pavarotti und Mirella Freni – und beendete seine Arbeit an der Bayerischen Staatsoper. In diesem Jahr leitete er auch das erste seiner zwei Silvester- und Neujahrskonzerte im Wiener Musikvereinssaal. Im März 1989 trat er zum ersten Mal vor die Berliner Philharmoniker. Das Angebot, an seinem Geburtsort Nachfolger Herbert von Karajans zu werden, lehnt er ab.

Carlos Kleiber
Carlos Kleiber
Foto: ORFEO International
Carlos Kleiber befand sich nunmehr auf dem Gipfel des Ruhms. Er konnte jedes Orchester und jedes Opernhaus zu seinen Bedingungen mit unbegrenzten Probensitzungen leiten. Doch machte er immer seltener Gebrauch von den luxuriösen Angeboten. Wo es ihm eine Herzensangelegenheit war, wie in Ljubljana, dirigierte er gratis. Während andere Dirigenten ganze Medienimperien errichteten und am liebsten drei Chefpositionen gleichzeitig bekleideten, wurde für Kleiber das singuläre musikalische Ereignisse immer wichtiger. Sein Probenfanatismus war berüchtigt. Er forderte von sich und den Mitwirkenden eine über das Mögliche hinausgehende Hingabe. Unvergessliche Aufführungen lohnten diese Mühe. Kleiber verstand es bei aller Analytik und Feinzeichnung große Bögen zu schaffen, die geistige Dimension von Werken der klassisch-romantischen Periode zu entfalten. Die glühende Intensität, die Spontaneität seines Musizierens führte nicht bloß zu paradigmatischen Interpretationen – sie hinterließ vielfach den Eindruck, als würden die Werke erst im Augenblick ihres Erklingens erschaffen, als würde sie der Dirigent im Moment der Aufführung komponieren.

In den 90er Jahren machte er sich in der Öffentlichkeit zunehmend rar. Bei seinem letzten Konzert in Cagliari am 26. Februar 1999 stand Beethovens Siebte auf dem Programm.

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